Kapitel eins
Nein, ich kann nicht weitererzählen. Es ist zu schmerzlich. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, buchstäblich ins Unglück gestürzt zu werden, und eben als ich glaubte, das Schlimmste hinter mir zu haben, ist zuviel für diese Schaltkreise, selbst wenn ich es nur rückblickend noch einmal durchleben muß: Soll jemand anders die Geschichte beenden. Hier, nehmen Sie den Gedankenprozessor. Ja, Sie, liebe(r) Leser(in). Vielleicht sind Sie so freundlich, meine Abenteuer nach Ihren eigenen Vorstellungen fortzuführen, denn wenn ich berichte, gibt es vielleicht nicht das Happy-End, das Ihnen als lindernder Ausgleich für die vorliegende bedrückende Aneinanderreihung von Zwist, Unglück und Mühsal vorschwebt. Dann wiederum – falls Sie mittlerweile Gefallen an solchen Mißhelligkeiten auf Kosten der Autorin gefunden haben, dann könnten Sie mir ein noch ärgeres Schicksal bestimmen, und ich wäre dumm, mein Anerbieten nicht zurückzuziehen, also tue ich es. Vergessen Sie, daß ich je davon gesprochen habe.
Nun denn, wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, ich fiel …
… und landete auf dem Betonboden von ›Kolonie 0‹, inmitten des hämischen Gelächters eines Empfangskomitees von einem Dutzend Spaßvögel, die das Rumpeln des Förderbands oben zum Anlaß genommen hatten, die Luftmatratze zu entfernen, die normalerweise unter der Deckenfalltür lag. Eins der wenig liebenswürdigen Individuen bot mir die Hand (ich war benommen von dem Sturz), ließ plötzlich los, als ich mich halbwegs aufgerappelt hatte, und umbrandet von neuen Wogen grölenden Lachens fiel ich erneut flach auf den Rücken. Rasch sprang ich auf die Füße und forderte eine Erklärung, was den nächsten krächzenden Heiterkeitssturm auslöste. Ich sage ›krächzend‹, weil meine Peiniger durchweg im fortgeschrittenen Alter waren, und ein kurzer Blick auf die verschiedenen Turngeräte in der Mitte des Raums brachte mich zu der Auffassung, daß es sich um eine Art Gymnastikhalle oder Freizeiteinrichtung zu ihrer körperlichen Ertüchtigung handelte. Daher meine Äußerung – die greise Horde unterdrückte ihr Gekicher, um mich verstehen zu können –, daß ich irrtümlich in die Abteilung der Altstars geraten war, fragte, ob sie so nett sein würden, mir den Weg zum Flügel der Aktiven zu zeigen. Das beschwor neues Gejohle herauf. Eine alte Xanthippe trat vor und starrte mir aus nächster Nähe ins Gesicht oder versuchte es wenigstens, denn sie war fast blind. »Hältst dich für einen Star, ja?«
»Ich besitze eine gewisse Popularität«, gab ich zu.
»Na, das hilft dir hier nichts«, entgegnete sie. Einer ihrer Kumpane witzelte, ich hätte eine große Ähnlichkeit mit der First Lady vom Mars, ein anderer griff die Idee auf und nannte mich spottend Lady Fracass. Aus der allgemeinen Fröhlichkeit im Gefolge dieser Geistesblitze war leicht zu schließen, daß keiner die Möglichkeit ernsthaft in Betracht zog, und ich begriff, daß sie seit mindestens einem Jahr keinen Kontakt mehr zur Außenwelt gehabt haben konnten, sonst hätten sie gewußt, daß die First Lady als P9 entlarvt worden war, und meiner Ähnlichkeit mit ihr größeres Gewicht beigemessen. Um ehrlich zu sein, ich nutzte ihre Unwissenheit aus und formulierte folgende Antwort: »Ich dulde nicht, daß man mich – auch nicht im Scherz – mit dieser Person in Zusammenhang bringt. Ich bin eine bescheidene Schauspielerin wie ihr auch.« Doch infolge des T-Max brachte ich die wohlgesetzten Worte nicht heraus, statt dessen entrang sich mir die Wahrheit: »Es stimmt. Ich bin oder vielmehr war die First Lady des Mars.«
Ein grauer und verhutzelter Großvater nuschelte: »Schön, schön. Kommt nicht oft vor, daß die Elite reinschneit. Fühlen Sie sich wie zu Hause, Madame«, und gab mir einen Schubs. Ein zweiter, mit ihm verbündeter Semi hatte sich unbemerkt hinter mir niedergekauert, und selbstverständlich fiel ich wieder einmal zu Boden. Hier unten war es offenbar schwer, Haltung zu bewahren – in jeder Hinsicht. Man hielt diesen letzten Streich für noch gelungener als den ersten. Ich sprang auf. »Das ist gar nicht lustig!« schnappte ich. »Sie ist noch jung, deshalb regt sie sich so auf«, kommentierte einer der Alten. »Nicht mehr lange«, bemerkte eine anderer. »Nein, hier nicht«, bestätigte die Xanthippe düster und fragte dann: »Hast du das verloren, Herzchen?« Die Holospule war mir bei dem letzten Sturz aus dem Ausschnitt gerutscht, und die Alte hielt sie mir jetzt vor die Nase. »Deine Bewerbungsspule, vermute ich?« Ehe ich danach greifen konnte, warf sie den kostbaren Gegenstand in die Luft und gab den Anstoß zu einem spontanen Ballspiel mit katastrophalem Ausgang, als nämlich die Spule zu Boden fiel und zertreten wurde. Außer mir vor Verzweiflung sank ich auf die Knie, sammelte die Trümmer auf und klagte schluchzend: »Mein Leben! Mein Leben!«
Ein wenig schuldbewußt und zerknirscht, hatte eine dieser senilen Gestalten den Nerv, mich zu trösten: »Lohnt sich nicht, wegen einer zerbrochenen Spule zu heulen, Kindchen. Es gibt keine Holoviewer im Pferch.«
»Pferch?« Ich hob den Kopf und wischte mir die Augen; eine beklemmende Angst ergriff von mir Besitz. »Meint ihr etwa die Stallungen? Man hat mir versprochen, die gäbe es nicht mehr.«
»Stallungen?« Die Xanthippe legte den Kopf schräg und musterte mich befremdet.
»Sind hier … Oh, man hätte mich nie herschicken dürfen.« Ich drückte die winzigen Bruchstücke an die Brust. »Es ist alles ein schrecklicher Irrtum – ein Fehler der Verwaltung. Diese dumme Empfangseinheit muß mich für die Abteilung der Ausgemusterten eingetragen haben. Ich werde zurückgehen und mir den Weg zum Quartier der Hauptdarsteller erklären lassen müssen. Nein? Es gibt kein Quartier der Hauptdarsteller? Und hier ist nicht die Abteilung für die Ausgemusterten? Bitte, sagt nicht, hier ist die Rehabilitation.«
»Schön wär's.«
Nachdem ich hart geschluckt hatte, unterzog ich meine Umgebung einer genaueren Überprüfung. Der Pferch war kreisrund und hatte einen Durchmesser von grob geschätzt fünfundzwanzig Metern. Begrenzt wurde er nicht von Gittern oder Mauern, sondern von einem elektronischen Puffersystem, das sich nur durch ein verräterisches Flimmern der Luft bemerkbar machte und undurchdringlicher war als jede stoffliche Barriere. Um uns herum gab es weitere Pferche, gleich groß, ebenfalls bevölkert, und da die transparenten Wände den ungehinderten Ausblick auf immer noch mehr Abteilungen ermöglichten, entstand der Eindruck einer riesigen, hermetisch versiegelten Kammer mit Dutzenden von Petrischalen. Ich schaute nach oben und sah, daß auch in unserer Kolonie, wie bei den anderen, eine große, ausfahrbare Hand in der Mitte der Decke montiert war. Sie war zu einer Faust geballt und mit einer dünnen Schicht Phytogewebe überzogen. Die Insassen, erfuhr ich, nannten sie ›den Greifer‹. Außerdem befand sich unter der Decke eine gläserne Beobachtungskabine. Ich konnte mehrere weißbekittelte Techniker erkennen, die zu uns herabschauten. Einer von ihnen hielt ein schnurloses Mikrofon in der Hand, und sein Blick schien direkt auf mich gerichtet zu sein. Seine Stimme dröhnte aus den Lautsprechern: »Wie schön, Sie wiederzusehen, Beweisstück Eins. Willkommen in der Benway-Klinik!«
Es war der werte Herr Doktor höchstpersönlich. Mir wurden die Knie weich, und die Bruchstücke der Spule entglitten meinen Fingern. Das also war meine neue Karriere – Versuchsobjekt in einem medizinischen Forschungslabor. Deshalb hatte Gebieter Dee mir meine Erinnerungen und meinen Stolz gelassen: Was konnte ich hier schon damit anfangen! Jetzt verstand ich auch unseren Abschied: Sein Kuß war ein Todeskuß gewesen! Ich wurde ohnmächtig und fiel zum dritten Mal und endgültig zu Boden.
Als ich zu mir kam – wer weiß, wieviel Zeit vergangen war? –, lag mein Kopf im Schoß einer gebrechlichen alten Frau mit langem, strähnigem grauen Haar. Zwei andere Einheiten, beide männlich und ebenfalls im Greisenalter, saßen neben ihr. (Ich konnte mich nicht entsinnen, das Trio bei meinem Empfangskomitee gesehen zu haben.) Sie betrachteten mich mit Sympathie und Sorge. Die weibliche Einheit stützte meinen Kopf, damit einer ihrer Gefährten eine Flasche mit Nährlösung an meine Lippen halten konnte – das heißt, er versuchte es, aber seine arthritische Hand zitterte so stark, daß ich selbst zugreifen mußte. Zwar fühlte ich mich ausgehungert, doch war es Jahre her, daß ich etwas dermaßen Scheußliches gekostet hatte. Nach ein oder zwei Schlucken mußte ich würgen und spuckte das eklige Gebräu wieder aus. »Zuerst fällt es schwer, aber wir haben uns alle dran gewöhnt«, erklärte die Alte. Sie bestand darauf, daß ich trank, denn eine andere Nahrung gab es hier unten nicht. »Es tut uns leid, wie du hier empfangen worden bist. Uns fehlt die Kraft, sonst hätten wir sie zurückgehalten. Es ist ein grausamer Spaß, aber die einzige Unterhaltung, die sie hier unten haben, fürchte ich. Es ist ein erbärmliches Dasein, das wir fristen.« Sie seufzte. »Wenigstens brauchen wir es nicht mehr lange zu erdulden.« Dann, wehmütig: »Du bist noch so jung und hübsch. Wie schade, daß es nicht so bleiben wird.« Sie richtete geistesabwesend den Blick in die Ferne. »Einst waren wir alle jung und hübsch. Aber das ist Monate her.« Dann sah sie wieder mich an. »Bald wird der Beschleuniger zu wirken beginnen. Es ist besser, wenn du gleich Bescheid weißt.«
Immer noch halb betäubt, setzte ich mich auf und stellte fest, daß die übrigen Insassen Abstand wahrten, seit einige ihrer Gefährten sich meiner angenommen hatten. Sie beschäftigten sich anderweitig, wanderten an der Barriere entlang oder lagen kraftlos auf den zerschlissenen Matratzen und rieben und kratzten sich die schuppige Haut wie von Flöhen zerstochene Affen. Ein unternehmungslustiges Grüppchen von Jüngeren nutzte die Turngeräte, doch nur aus reiner Langeweile, und auch sie schienen sich wie in Zeitlupe zu bewegen. Die Beobachtungskabine unter der Decke war jetzt leer, das Licht erloschen.
»Beschleuniger?« fragte ich in großer Angst.
»Ja«, antwortete sie und erklärte, daß die Platte, auf die ich unmittelbar vor meinem Sturz in den Pferch die Hand gelegt hatte, mir eine Droge injizierte, deren Wirkung darin bestand, daß ich innerhalb weniger Wochen wie ein Mensch alterte. Es war ein Initiator, sozusagen, denn darauf folgte das im Experimentalstadium befindliche Gegenmittel zur Aufhaltung und Umkehrung des Alterungsprozesses, an dessen Entwicklung man in der Klinik arbeitete. Beim Streben der Gebieter nach ewigem Leben waren wir die Meerschweinchen. Wie ich an ihrem Beispiel sehen konnte, waren die Ergebnisse bisher alles andere als ermutigend, doch Mißerfolge motivierten Dr. Benway nur um so mehr.
»Wie lange bleibt mir noch?« fragte ich meine gütigen Leidensgefährten.
»So lange, wie es deiner normalen Lebensspanne entspricht«, erwiderte die Frau. »Wie, sagtest du, ist dein Name? Ich hörte die anderen dich Lady Fracass nennen, aber das kann unmöglich stimmen, trotz der Ähnlichkeit.«
Diesmal gab es kein inneres Ringen, denn das T-Max hatte aufgehört zu wirken. »Ihr könnt mich ruhig Molly nennen.«
»Sehr gut. Ich bin Matilda, und das ist Bernard.« Der Großvater, der mich gefüttert hatte, streckte die zitternde Hand aus. »Erfreut, deine Bekanntschaft zu machen.« Ich erwiderte seinen Griff mit größter Behutsamkeit. »Und ich bin Freddy«, meldete sich das dritte Mitglied der Truppe, eine kahlköpfige und verwelkte Greisengestalt.
»Freddy kann dir mehr über den Beschleuniger erzählen«, sagte Matilda. »Er ist ein halber Gelehrter. Freddy, würdest du so lieb sein? Unsere Freundin sieht immer noch etwas verwirrt aus.« Er war sichtlich gern bereit, sein Wissen zu teilen. Nachdem er seine Kehle von einer scheinbar unendlichen Menge Schleim freigeräuspert hatte, erläuterte er, daß das bewußte Mittel durch Aufhebung der in der DNA verankerten Altersbremse den Degenerationsprozeß auslöste. Unser VVD wird davon nicht beeinflußt, deshalb bleibt unsere Lebensspanne unverändert. Der Prozeß verläuft in zwei Phasen. Erst kommt es zu einer rapiden Anpassung an unser menschliches Äquivalenzalter – genauer gesagt, das Alter holt uns ein; dem folgt ein langsamerer Verfall, während die Einheit sich ihrem VVD nähert.«
»Wie ist dein Herstellungsdatum?« unterbrach ihn Matilda. Ich sagte es ihr. »Und du bist ein P9, wenn ich richtig sehe.« Ich nickte. »Dann bist du mindestens siebzehn, dein menschliches Äquivalenzalter läge also bei zweiundsechzig. Ach, ihr P9 könnt euch glücklich schätzen mit eurem zwanzigjährigen VVD! Ich bin ein Daltoni, mit einer Lebensspanne von lausigen zwölf Jahren, deshalb welke ich schneller dahin, als es bei dir der Fall sein wird.«
»Tut mir leid.«
»Läßt sich nicht ändern.«
»Erst hielt ich euch alle für Semis.«
Bernard meldete sich zu Wort und klärte mich über diesen Punkt auf. Jede Einheit in unserem Pferch war ein echter Androide der neunten Generation. Er zum Beispiel war ein Sony; je weiter aber der Alterungsprozeß voranschreitet, desto mehr schwinden auch solche Unterscheidungsmerkmale wie individuelle Ausführung und Firmendesign: Zum Schluß sehen wir alle gleich aus, nur unsere VVDs sind verschieden. Semis gab es auch, sagte er, in einigen der anderen Pferche, einer davon lag unmittelbar hinter uns. Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »Benny verzichtet darauf, sie mit dem Beschleuniger zu impfen, er gibt ihnen nur das Gegenmittel. Sie altern von sich aus, verstehst du?«
Man wird zugeben müssen, das alles war für mich ein schwerer Schock. Ich dachte an Dr. Benways Aussage bei Gericht zurück und wie Jug meinen Gebieter unverhohlen ermuntert hatte, mich der Klinik zu stiften. Formate, Formate. Die Formate anderer! Das Kreuz meines Daseins. Nicht einmal der Verkauf an das Studio hatte verhindern können, daß dieses Format on line kam. Micki Dee mußte Boffo überredet haben, auf mich zu verzichten, und das ohne große Mühe, denn das Studio hatte mich Locke nur deswegen abgekauft, um sich die Rechte an meinem Erinnerungsspeicher zu sichern – er war der Artikel, auf den es ihnen ankam. Jede beliebige Einheit aus den Stallungen konnte meine Rolle spielen, wenn man ihr das richtige Gesicht verpaßte. Stellar mußte mich aus Gründen der Steuerabschreibung der Klinik gestiftet haben. »Das ist ungeheuerlich!« rief ich und brach in Tränen aus. Ich würde nicht, konnte nicht altern, das war unmöglich – die Menschheit konnte nicht so grausam sein, mich des einzigen Vorteils zu berauben, den ich je gehabt hatte.
»Im Namen ihrer kostbaren Wissenschaft sind sie zu diesen und noch größeren Abscheulichkeiten fähig«, bemerkte Freddy mit tiefempfundener, trauriger Verachtung. »Der distinguierte Dr. Benway und sein Stab haben sich sogar des Diebstahls schuldig gemacht: Aus dem Institut für angewandte Aquarierwissenschaften in Mandala entwendeten sie die Basisformel für die vielversprechendsten Versuchsreihen. Ich weiß es, denn ich war dort. Ich lebte in Horizont. Unsere Wissenschaftler beschäftigen sich auch mit der Idee der Unsterblichkeit, doch der Schwerpunkt lag auf der Entwicklung eines VVD-Neutralisators. Wenn sie nur die Zeit gehabt hätten, ihre Arbeit mit den Genomen zu beenden, dann hätten sie den Code aufbrechen können. Aber« (Seufzer) »dann kam die die Invasion.«
»Genomen?«
»Ja. Unsere Wissenschaftler bedienten sich nicht der sadistischen Methode, lebende Wesen für Experimente zu mißbrauchen. In Horizont wurde eine non-empirische Art wissenschaftlicher Forschung praktiziert, auf intuitiver und pantheistischer Basis. Im Fall der VVD-Forschung kommunizierten sie mit den Zellgenomen der Humanophyten-DNA. Die Methode war die rücksichtsvollere und im Endeffekt auch exaktere, weil sie keine Objektivität vortäuschte. Das Subjekt und der Beobachter bildeten ein Team. Ergebnisse ließen sich erheblich schneller erzielen, und zwar, ohne Hunderte – Tausende! – von Versuchssubjekten quälen zu müssen. Wir haben nicht die Integrität einer einzigen Zelle verletzt!«
»Du urteilst zu hart über die menschliche Wissenschaft«, tadelte Bernard hintersinnig. »Sie haben seit dem letzten Jahrhundert enorme Fortschritte in ihren Methoden gemacht, als Hunde, Ratten, Katzen, Mäuse, Kaninchen und Affen in ihren Laboratorien geopfert wurden. Das ist heute nicht mehr so.«
»Ja, wie erfreulich«, ging Freddy auf seinen Ton ein. »Wir sind an ihre Stelle getreten.«
»Diese ›Klinik‹« – Bernard spuckte das Wort voller Verachtung aus – »unterliegt nicht dem Kodex. Wie Hunderte von wissenschaftlichen und medizinischen Forschungseinrichtungen im ganzen Sonnensystem.«
»Die Testlabors für Konsumgüter nicht zu vergessen«, warf Freddy ein, und sein Lächeln verblaßte. »Da habe ich eine Menge Freunde verloren.«
»Die Heuchler!« rief ich aus. »Zu Forschungszwecken sind wir den Menschen ähnlich genug, aber nicht, wenn es um unsere Rechte geht.«
»Richtig«, nickte Freddy. »Wenn es ihnen je gelingt, den Alterungsprozeß aufzuhalten, dann durch uns, obwohl wir davon nicht profitieren werden. Das Serum wird ausschließlich den Gebietern vorbehalten bleiben, verlaßt euch darauf.«
»Du hast gesagt, den Wissenschaftlern in Horizont wäre es bis zur Invasion nicht gelungen, den VVD-Code zu entschlüsseln. Hat Dr. Benway seither Erfolg gehabt? Ich würde annehmen, es wäre auch in seinem Interesse, uns über das Terminationsdatum hinaus am Leben zu erhalten.«
»Wie du noch hoffen kannst«, meinte Freddy. »Auch ich dachte anfangs so. Nein. Ihm ist daran gelegen, daß wir termingerecht abtreten; auf diese Weise kann er in relativ kurzer Zeit eine komplette Testreihe abschließen. Das ist ein weiterer Grund, weshalb wir die idealen Versuchssubjekte abgeben. Wenn das VVD entfiele, würde sich das ungünstig auf seine Experimente auswirken.«
»Abgesehen davon, würden die Androidenhersteller ihn innerhalb von zwei Minuten kaltstellen, wenn er eine Umgehungsmöglichkeit für den programmierten Verfall finden würde«, ergänzte Bernard. »Selbst wenn er durch Zufall darauf stieße. Sie würden eine derartige Entwicklung als unmittelbare Bedrohung der Produktkontrolle betrachten.«
Matilda nickte und sagte: »Benny ist auf gute Beziehungen zu den Herstellern angewiesen; er brauchte ihre Spenden und Ausschußware, um Verluste auszugleichen.«
»Wie mich«, gestand Bernard. »Ich habe nie die Außenwelt gesehen. Ich bin unmittelbar von einer GA-Fabrik in East Lansing hierhergekommen. Irgendwas stimmte nicht mit meiner Hautbeschaffenheit. Zu stumpf, vermute ich. Und zu dunkel.«
»Das ganze Unternehmen ist Schwindel«, brummelte Matilda. »Alles, was dabei herauskommt, sind immer neue und groteskere Derivate eines Gegenmittels. Jeder Pferch bekommt ein anderes. Allesamt wirkungslos, natürlich, aber mit faszinierenden Nebenwirkungen, um den Stab mit allen möglichen Sekundärprojekten auf Trab zu halten. Zum Beispiel der Pferch rechts von uns ist voll mit Tumorgeschädigten; in dem da hinten, links, stecken die Krüppel; drüben« – ein Wink nach vorn – »haben wir die Krebsclique, und wenn du die Augen anstrengst, kannst du dahinter die Leprakranken sehen. Dann noch, gleich nebenan, unsere Freunde, die Semis, die einfach nur verrückt sind. Das ist nur eine kleine Auswahl der Krankheiten, die man hier kultiviert. Dieser Ort ist eine Brutstätte für alle möglichen medizinischen Alpträume: seltene Krebsarten, Pocken, Cholera, Mißstimmungen, Furunkel, Teratome, Entzündungen der Atemwege, Tuberkulose – was dir einfällt, wir haben's.«
Ich schrak zurück, angeekelt und erschreckt von ihrer Aufzählung.
»Kein Sorge«, beruhigte mich Freddy. »Die Barriere blockiert die Ausbreitung ansteckender Viren von einem Pferch auf den anderen. Allerdings hindert sie uns nicht daran, daß wir miteinander sprechen. Auf diesem Weg können wir uns über unsere jeweiligen Unpäßlichkeiten unterhalten.«
»Ich möchte sagen, das ist unser Hauptgesprächsthema«, fügte Matilda hinzu.
»Und was ist die Nebenwirkung in dieser Abteilung?«
Bernard runzelte die Stirn. »Die meisten von uns haben solche Schrullen entwickelt, daß wir zuzeiten nicht einmal die einfachsten Regeln der Höflichkeit untereinander beobachten.«
»Es gibt sogar Prügeleien«, sagte Matilda. »Ein Haufen alter Schwachköpfe, die aufeinander losdreschen. Erbärmlich! Ich fürchte, auch ich habe meine unausstehlichen Anwandlungen.«
Ihre Gefährten gestanden, daß auch sie von Zeit zu Zeit plötzlichen Phasen der Reizbarkeit unterworfen waren, und baten mich im voraus um Verständnis für etwaige Ungezogenheiten. Ich entgegnete, ich würde mein Bestes tun eingedenk der Freundlichkeit, die sie mir erwiesen und die ich für ihr eigentliches Naturell hielt. Dann wollte ich von Freddy wissen, ob man unter den gegebenen Umständen etwas tun konnte. Gab es eine Möglichkeit zur Flucht? Er mußte mich enttäuschen. »Nein, außer durch rigoroses Formatieren für Vergebung«, eine Meinung, die von seinen unreligiösen Freunden nicht geteilt wurde. Bevor sich ein Disput entwickeln konnte, wurde unsere Aufmerksamkeit von plötzlichen Aktivitäten im Pferch der Semis abgelenkt. Eine allgemeine Prozession war im Gange. Die versammelten Insassen marschierten mit erhobenen Armen und zurückgeworfenen Köpfen im Gänsemarsch an der Barriere entlang und intonierten verzückt ihr Glaubensbekenntnis zum Segen der übrigen Kolonien: »Gelobt sei P-10!«
»Um welche Art von Geistesgestörtheit handelt es sich bei ihnen?« erkundigte ich mich.
»Religion«, lächelte Matilda.
»Nein«, schnappte Freddy. »Das ist nicht ihr Problem. Religion ist nicht ihr Problem.«
»Tut mir leid. Ich vergesse immer wieder, daß du ein Aquarier bist.«
»Blasphemie ist ihr Problem«, fuhr er aufgeregt fort. Ein Speichelfaden lief über sein Kinn. »P-10 ist eine Verhöhnung von des Chefs Wort!« Ich versuchte ihn zu besänftigen, aber er wollte nicht hören. Er stand ruckartig auf, verlor durch die Anstrengung beinahe das Gleichgewicht und humpelte zu der Barriere.
»Ach je, jetzt haben sie Freddy wieder zornig gemacht«, sagte meine betagte Freundin mit einem Seufzer, während Bernard, der auch grantig wurde, ausspuckte. »Dreckige Semis. Müssen sie auch dauernd Prozessionen veranstalten!«
Ich half meiner Freundin auf die Füße. »Wir können uns die Fanatiker und ihr Treiben ebensogut ansehen und aufpassen, daß Freddy sich nicht übernimmt.« Sie stützte sich auf mich, als wir zur Barriere gingen. Der überwiegende Teil der Bewohner unseres Pferchs hatte sich dort versammelt und überschüttete ihre frommen Nachbarn mit Beleidigungen, doch die andächtigen Prozessionsteilnehmer ließen keine Reaktion erkennen. »Abschaum! Ketzer! Dafür werdet ihr alle off line gehen!« gellte Freddy mit seiner dünnen und brüchigen Stimme.
Zu meiner Information deutete Matilda auf einen großen Wigwam und sagte, das wäre die Wohnstatt von P-10. Es war nichts weiter als ein mit Klinikhemden verhängtes, zweckentfremdetes Klettergerüst, wie es auch in unserem Pferch stand. »Niemand von uns hier kann sich erinnern, P-10 jemals zu Gesicht bekommen zu haben«, erklärte Matilda, »doch seine Anhänger behaupten, er sei ein im vollen Umfang der Gnade teilhaftiger und erleuchteter Semi mit großen mystischen Kräften. Selbstverständlich ist er nichts weiter als ein Scharlatan, der darauf aus ist, sich ein bequemes Leben zu machen.«
»Nun, etwas muß für ihn sprechen«, gab ich zu bedenken, »wenn er so viele Anhänger hat.«
Die harmlose Bemerkung wurde von der alten Xanthippe gehört, die zufällig ganz in der Nähe stand, und sie regte sich gewaltig darüber auf, beschuldigte mich, mit den Semis zu sympathisieren und eine Anhängerin von P-10 zu sein. Nur mit Mühe gelang es Matilda und mir, sie und auch die anderen, die mich drohend musterten, zu überzeugen, daß ich nichts dergleichen hatte andeuten wollen. Widerwillig und nur aus Respekt vor Matilda akzeptierte sie meine Erklärung, verfluchte mich aber trotzdem, weil ich ihr Widerworte gegeben hatte. Anschließend wandten sich alle wieder der Barriere zu, um Freddy bei seinen zunehmend radikalen Schmähungen zu unterstützen. Mit schriller Stimme führte er den Chor an. »Exterminiert sie alle!« hörte ich ihn krächzen.
Nach meinem Verständnis war das für einen Hochaquarier eine befremdliche Haltung gegenüber seinem Nächsten, doch ich behielt es für mich, um ihn nicht noch mehr aus dem Häuschen zu bringen. Die Prozession war bald zu Ende, und er wandte sich ab und mit ihm die übrigen ausgepumpten, speicheltriefenden, wankenden Radaubrüder. Ich reichte ihm den Arm, und er akzeptierte, denn er hatte sich völlig verausgabt. Seine Kraft reichte nur noch dazu, sich brummelnd zu beschweren, wie Horizonts erste Interspeziesgeneration von ihren überbesorgten Eltern – Menschen wie Androiden – verzogen worden war. »Sie halten sich für was ganz Besonderes.«
Ich rief mir die Passagen aus meinen vor Gericht gezeigten Erinnerungen ins Gedächtnis, in denen ich Tad die Botschaft des Chefs vermittelt hatte. Mir war klar, daß ich riskierte, ihn wieder in Harnisch zu bringen, und doch mußte ich einfach sagen: »Vielleicht sind sie's. Erinnerst du dich nicht an die Prophezeiung des Chefs – die neunte Generation soll die erste hervorbringen?«
Bevor er in die Luft gehen konnte, mahnte ihn Matilda, bis neun zu zählen; er befolgte den Rat und sah sich in die Lage versetzt, mir in gemäßigtem Ton zu erwidern, das sei weit entfernt von dem, was P-10 und seine Herde für sich in Anspruch nahmen – daß Er der Bote des Chefs sei und zur Erde herniedergestiegen, um die Entstehung einer neuen Variante der Spezies zu verkünden.
»Die Sprüche könnten genausogut von einem beliebigen Werbefachmann bei Pirouet stammen«, warf Matilda ein, die selbst Anzeichen beginnender Gereiztheit erkennen ließ. Übergangslos fauchte sie mich an: »Ihr P9 haltet euch wirklich für der Weisheit letzten Schluß, was?« Offenbar hatte ich sie erzürnt. Eines zusätzlichen Beweises bedurfte es nicht mehr, als sie mir gleich darauf ins Gesicht spuckte. »Tilda!« rief Freddy zurechtweisend. »Das ist nicht die feine Art!«
»Ist schon gut«, sagte ich. »Ich verzeihe dir.«
»Das will ich hoffen! Lausiger P9!« Sie stieß mich aus dem Weg – nun ja, sie versuchte es. Ich trat beiseite, um sie vorbei zu lassen, doch sie schaffte nur die fünf Meter zu einer Gruppe debattierender Kollegen. Ich glaube, sie diskutierten die relativen Vorzüge ihrer jeweiligen Herstellungsverfahren. In ihrer gegenwärtigen Gemütsverfassung war Matilda eisern entschlossen, ihren Senf dazuzugeben. »Tut mir leid, Molly«, entschuldigte sich Freddy. »Manchmal rastet sie ein wenig aus.« Augenscheinlich hatte er seinen eigenen cholerischen Anfall bereits vergessen.
Was immer es war, das Matilda zu ihnen sagte, es erwies sich als dermaßen explosiv, daß sie einen Faustkampf provozierte, in den Null Komma nichts die Hälfte der Insassen verwickelt war. Matilda hatte recht gehabt, diese Zwischenfälle als jämmerlich zu bezeichnen. Ich konnte sie in der Mitte des Getümmels umherwanken sehen, wie sie mit ihren zahnlosen Kiefern den Arm eines der anderen Insassen bearbeitete. Beruhigungsmittel aus der Berieselungsanlage erstickten den Tumult so schnell, wie er entstanden war, doch leider machte das Mittel keinen Unterschied zwischen Beteiligten und Zuschauern, deshalb wanderte ich während der nächsten paar Stunden halb betäubt durch den Pferch und murmelte wieder und immer wieder vor mich hin: »Nein, nein, nein. Ich darf nicht werden wie sie. Ich darf nicht! Ich darf nicht!«